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Ilse Feibel

Ich bin Ilse Feibel, geboren in Marburg. Ich sage Ihnen jetzt mein Datum, das ist 1917. Das ist sehr, sehr ältlich. Ich habe in der Barfüßerstraße 9 gewohnt, bin in ’39 nach Israel, wohne in Nof Yam, Herzliya. Ich komme jedes Jahr zweimal nach Frankfurt, ich hab eine kleine Wohnung in Frankfurt, und fahre dann immer nach Marburg, da hab ich noch einige Freunde.

Kindheit in Marburg

Ich war ein Kind von Marburg und war sehr glücklich. Ich war hauptsächlich mit christlichen Kindern befreundet, Wir hatten Ringe gehabt, Freundschaftsringe, und wir haben uns ins Album reingeschrieben. Da steht drinne: So geht’s bergauf, so geht’s bergrunter, uns’re Freundschaft geht niemals unter. Aber leider ist sie dann untergegangen in der Nazizeit.

Wir waren sehr befreundet, bis eines Tages in der Schule das Horst-Wessel-Lied gesungen worden ist, und alle haben die Hand gehoben. Ich wusste nicht, heb ich die Hand auch? Und ich hab sie halb hoch gehoben. da bekam ich einen Tritt in den Popo, und gesagt: “Verdammter Jud’, du hast hier nicht die Hand hochzuheben! Du bist ein Jud’!” Und ich war sehr beschämt. Ich kam in die Klasse, und meine Freundin hat gesagt: “Ich möchte nicht mehr neben einem Juden sitzen.”

Und ich bin weinend nach Hause gekommen. Meine Mutter ist dann zum Direktor in die Schule gegangen, und der Direktor hat gesagt: “Es ist eine Zeit, nicht mehr zum Helfen. Nehmen Sie Ihr Kind aus der Schule.” Und so war ich ab ’33, ’34 noch jung und ich wußte nicht, wohin.

Pogromnacht

Die Novembernacht hab ich miterlebt … es klopft … wir hören, die Synagoge brennt. In der Nacht hämmert’s an der Tür und die Leute hämmern uns die Tür zu und rufen: “Wir wollen nicht mehr mit Juden unter einem Dach leben!”

Am Morgen gehe ich auf die Straße, ich wollte zur Polizei gehen. Ich hab gedacht, die Polizei kann uns helfen, aber … ich komme auf die Straße, da begegnet mir eine Frau Rosenbaum, eine jüdische Frau, die ein Konfektionsgeschäft gehabt hat, und die sagt zu mir: “Ilse, wo willst du denn hin?” Sag ich: “Ich gehe zur Polizei.” Sagt sie: “Hast du nicht gehört, dass die Synagoge brennt?” Sag ich: “Das hab ich gehört. Und hinten, die hämmern das Haus zu!” Da hat sie gesagt: “Geh nirgends hin! Geh nach Hause! Unsere Männer sind alle geholt worden. Mein Mann ist fort. Bleib zuhause!” Also, sind wir wieder nach Hause, weinend, schwer …

Dann hat meine Mutter gesagt: “Weißt du was? Wir werden nach Meimbressen gehen.” Das ist bei Kassel… Und sie hat angerufen nach Meimbressen. Da hat meine Tante gesagt: “Ihr bleibt am besten in Marburg. Bei uns läuft der Zucker die Treppe runter.” Die hatten nämlich auch ein Kolonialwarengeschäft, und die Nazis haben ihnen alles kaputtgeschlagen. Also, das war … es war eine schwere Zeit. Die Nachbarin, die da zugeschlossen hatte, hat am Fenster gestanden, wir konnten uns von Fenster zu Fenster sehen. “Ha!”, hat sie rausgerufen, “Ha! Du denkst, du wirst deinen Mann wiedersehen? Der konnte flüchten, aber du kommst nicht mehr raus.”

Es gab in Marburg ein paar Menschen, die sehr lieb und sehr nett zu uns waren. Das war der Magistrat, der meinem Mann das Leben gerettet hat, und ich hatte an diesem Tag, das war die Kristallnacht, an dem nächsten Tag, einen Termin beim Zahnarzt, und der Zahnarzt war unten im Marbachweg. Und ich bin hin zu ihm, und dann hat er gesagt: “Ilse, du gehst nicht durch die Stadt nach Hause.” Da ist die ganze Stadt zerstört worden, die Geschäfte. “Du bleibst hier und gehst dann übers Schloss nach Hause.” Das ist ein weiter Weg, übern Berg rüber. Also so gab es doch Menschen, die zwar nicht helfen konnten, aber doch uns etwas Liebe gaben.

In Marburg Ende der 1960er Jahre

Das erste Mal nach Marburg war nicht einfach, gar nicht einfach. Ich bin in der Barfüßerstraße gewesen an unserem Haus, das erste Mal, und bin in die Treppe reingegangen, und da hat eine Frau gesagt: “Was suchen Sie denn hier?”

Wieder einmal bin ich dann trotzdem …es war wieder eine Einladung der Christlich-Jüdischen Gesellschaft, nach Marburg, stand vor der Tür, da ist die Tochter rausgekommen, da sagt sie zu mir: “Was guckst du denn so darauf?” Sage ich: “Was ich guck? Das war unser Haus.” Sagt sie: “Was willst du? Mach, dass du fortkommst. Du bist wohl verrückt geworden. Unser Haus.”

Synagoge

Was würden Sie denn den Menschen an diesem Ort, dem Ort der ehemaligen Synagoge gerne sagen ?

Dass ich mich gerne erinnere an die schöne Synagoge, an den Herrn Rabbiner Kohn, an den Lehrer Pfifferling, und dass ich sehr gerne in die Synagoge gegangen bin. Ich war sehr jung, aber es war für mich ein schöner Ort. Wir haben unseren festen Platz gehabt in dieser Synagoge.

Ich bin sehr oft in die Synagoge gegangen mit meiner Mutter. Ich hab auch sehr schön gesungen. Ich weiß, dass ich einen Ball geschenkt bekommen habe, weil ich immer schön mitgesungen hab.

Dieser Ort berührt mich, wenn ich hinkomme. Ich hab den Stein dort gesehen. Und ich habe gesehen, dass jetzt was gebaut wird da, so im Untergrund. Es berührt mich und Erinnerungen sind in mir wach, Kindererinnerungen.

Es ist wichtig für die Jugend, dass sie wissen, was einmal gewesen ist.

Bezug zu Marburg heute

Ich bin sehr verbunden. Ich fahre sehr viel nach Marburg. Und ich gehe immer in die Barfüßerstraße. Barfüßerstraße Nr 9. Ich guck – heute ist das Haus ganz verändert worden. Und ich geh in die Kugelgasse, das Hinterhaus. Und ich zeige es den Leuten. Wenn ich in Marburg reinfahre … erstens bin ich ja alleine geblieben, hab ich ein wehes Gefühl. Es ist ein Stück Heimat gewesen, es ist meine Jugend gewesen, auch meine Sprache.

 

Ilse Feibel mit einem
Foto ihrer Schulklasse